(* Dieser Blogpost ist im Rahmen einer Kooperationen mit ruhrkultur.jetzt entstanden. Jeglicher Inhalt dieses Artikels spiegelt aber unsere persönliche Meinung wieder! ☺)
Unsere Museumsbesuche im Rahmen unseres Projektes mit ruhrkultur.jetzt führen uns noch einmal deutlich vor Augen, wie viele unterschätzte Städte es eigentlich im Ruhrgebiet gibt.
Nachdem Hamm bereits einige Überraschungen für uns bereithielt, machen wir eine noch einprägsamere Erfahrung in Marl – diesem einst nahezu winzigen Dorf, das als Bergbaustadt und Chemiestandort im 20. Jahrhundert zu einer Stadt mit zwischenzeitlich fast 100.000 Einwohnern anwuchs und nun wieder in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden droht. Auf den ersten Blick scheint hier alles aus tristen Bauten, Fitnessstudios und einem Einkaufszentrum zu bestehen. Doch dann entpuppt sich der Ort als ein kleines Highlight in Sachen Architektur und Design.
Die ersten Schritte aus der S-Bahn heraus vermitteln uns den Eindruck, als hätten wir besser noch ein paar Stationen weiterfahren sollen – zum Beispiel ins 10 Minuten entfernte und etwas idyllischere Haltern am See oder in die entgegengesetzte Richtung bis nach Wuppertal.
Doch die Türen haben sich bereits geschlossen und natürlich sind wir aus einem guten Grund hier. Also gehen wir die Treppe vom Bahnsteig hinauf, um das vor uns aufragende Einkaufszentrum besser begutachten zu können. Denn ansonsten gibt es hier nicht viel, bloß einen Busbahnhof und triste Häuserblöcke. Aber das ist nicht alles, haben wir gehört. Und wir werden nicht enttäuscht.
Als wir durch die große Halle laufen, wird uns bewusst, dass wir uns im wohl traurigsten Einkaufszentrum der Welt befinden. An anderen Stellen sind sie die Bösewichte, die nach landläufiger Meinung den Leerstand in der Innenstadt zu verantworten zu haben – hier dagegen blickt man ebenfalls auf wenig einladende Geschäfte und zahlreiche kahle Schaufenster. Doch es dauert gar nicht lange, dann erreichen wir endlich die Tür nach draußen auf der anderen Seite des Gebäudes – und auf einmal bekommt die Stadt einen ziemlich coolen Touch.
Vor uns befindet sich nun das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, das den eigentlichen Hauptgrund für unseren Besuch darstellt. Bereits auf der weitläufigen Fläche vor uns gibt es einiges zu sehen – denn das angrenzende kleine Parkstück mit See ist bereits großzügig bevölkert mit Skulpturen in ganz verschiedenen Stilen und Größen. Vor uns ragt eine große Uhr auf, die an einem metallenen Gerüst befestigt in einem Wasserbecken steht und etwas weiter sehen wir bereits ein auffälliges Gebilde mit drei riesigen Wülsten, die aus Würfeln herauswachsen: Die „Naturmaschine“ von Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff.
Beim Gang rund um den See begrüßen uns unter anderem „Die große Badende Nr. 1“ von Emilio Greco, der „Große Orpheus“ von Ossip Zadkine und ein Revolver mit verbogenem Lauf: „Non Violence“ von Carl Fredrik Reuterswärd. An sonnigeren Tagen kann man hier sicher Stunden verbringen, aber auch so ist es fantastisch. Mehr als 70 Skulpturen sind hier im Freien ausgestellt – einfach so, ohne dass man erst an der Kasse seinen Beitrag hinlegen muss.
Hier schlägt unser durch zahlreiche Filme entfachtes Herz für stylische Old-School-Schlitten umgehend einen Moment schneller, als wir hinter dem Glas auch einen alten Buick erblicken – jedoch mit einem Gewehr auf der Motorhaube, in einem Betonklotz feststeckend und unmittelbar dabei, ein ausgestopftes Kalb zu überfahren.
„Mit(h)ropa“ von Wolf Vostell war ursprünglich eine Auftragsarbeit für eine der größten Fleischfabriken Europas, hat damals für einige Furore gesorgt und steht nun als Dauerleihgabe nun eben genau hier inmitten vieler anderer spannender Werke. Und so schlendern wir noch ein wenig herum, wobei eine weitere Beschreibung unserer Eindrücke den Rahmen unseres Berichts sprengen würde.
Auf der Website des Museums gibt es schon einiges zu sehen – und am besten steigst du an einem schönen Tag einfach selbst in die S-Bahn oder ins Auto und gönnst dir einen kleinen Spaziergang durch die Kunst. ☺
Wieder auf dem Platz vor dem Museum fällt unser Blick noch auf ein Ortsschild mit der Aufschrift „Marl hat keinen Platz für Rassismus“, was uns auf Anhieb sympathisch ist. Überhaupt ist der Ort auf einmal wie auf verstörende Weise verzaubert. Eine Oase der Kunst mitten im ausgezehrten Flickenteppich eines ehemals aufgeblühten Industriestandorts.
Mit der RuhrKultur.Card erkunden wir in diesem Jahr die reiche Museums– und Theater–Szene des Potts, und heute ist Marl an der Reihe.
Bis 31.12.2019 bietet Euch die Karte, die mit dem super–ausführlichen RuhrKultur.Guide daherkommt, jeweils einen freien Eintritt in alle 20 RuhrKunstMuseen und je ein Vorstellungsticket zum halben Preis für alle 11 RuhrBühnen und die Festivalzeiträume der Ruhrtriennale, der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen und der Ruhrfestspiele Recklinghausen.
34 Aktivitäten also in 2019 für extrem faire € 45,00! ☻
Nun ist es für uns an der Zeit, etwas höher zu schauen und uns der Architektur der Stadt zu. Denn wie wir auf der Website des Skulpturenmuseums nachlesen konnten, wurden hier nach dem Zweiten Weltkrieg weltbekannte Architekten verpflichtet, um der Stadt ein neues Gesicht zu geben. Außerdem hat man einen prozentualen Teil des großzügigen Budgets für die Bauvorhaben in den Ankauf von Kunstwerken investiert – wodurch mit der Zeit die beeindruckende Sammlung aus über 300 Werken der Klassischen Moderne entstehen konnte, der wir uns eben gewidmet hatten.
Eines der großen Highlights der Stadt ist das Rathaus – entworfen von den niederländischen Architekten Johan Hendrik van den Broek und von Jacob Berend Bakema, die damals in der Ausschreibung mit ihren Ideen gegenüber anderen Berühmtheiten bestehen und vollauf überzeugen konnten. Die ganz im Zeichen des Brutalismus stehenden beiden Bürotürme mit den schlanken Füßen scheinen förmlich in der Luft zu schweben und setzen einen klaren Akzent im damals ganz bewusst festgelegten neuen Zentrum der Stadt.
Wir sind fasziniert und zugleich ein wenig traurig, als wir erfahren, dass es gerade eine Bürgerinitiative gegen die dringend nötige und bereits beschlossene Sanierung des Rathauses gibt. In Anbetracht der Kosten von rund 70 Millionen Euro auf der einen Seite durchaus nachvollziehbar – auf der anderen Seite sind die Türme noch immer ein herausragendes Beispiel der zunehmend von der Bildfläche verschwindenden brutalistischen Architektur-Welle. Und neben dem Skulpturenmuseum einer der Gründe, überhaupt einen Ausflug nach Marl zu unternehmen. Ob man das wirklich aufgeben sollte?
Um noch besser nachvollziehen zu können, wie sich all das überhaupt entwickelt hat, setzen wir nun einen Schritt in die Rathaus-Galerie, wo uns die Ausstellung des Fotografen Ivan Köves erwartet – unter dem Titel „Marl – Tradition und Aufbruch in die Moderne“. Die in den 1960er-Jahren entstandenen Bilder geben uns einen guten Eindruck davon, wie die Stadt damals im Zuge der Industrie gewachsen ist und sich immer weiter vom dörflichen Charakter entfernt hat. Und vor allem bekommen wir eine ungefähre Vorstellung davon, was der Wandel für die Menschen hier bedeutet haben muss.
Als wir wieder draußen sind, werfen wir doch noch einmal einen Blick zurück zum Einkaufszentrum. Denn wie wir mittlerweile erfahren haben, steht das Dach des „Marler Sterns“ im Guinness-Buch der Rekorde – als das größte Luftkissendach der Welt. Das macht es zwar von innen nicht schöner, beeindruckend ist es trotzdem. Nun gehen wir auch wieder dorthin, um in der berüchtigten „Frittenbude“ (heißt wirklich so, macht aber keine Musik) eine Pommes und Falafel zu essen.
Anschließend trinken wir noch ganz gemütlich etwas im Café in der Stadtbücherei, um die vielen Eindrücke sacken zu lassen. Es ist leider nicht der richtige Tag dafür, sonst würden wir gleich noch zum Poetry Slam gehen, der alle zwei Monate im wenige Minuten entfernten Jugend- und Kulturzentrum Hagenbusch stattfindet. Auf der anderen Seite hatten wir auch wirklich genug Input für heute und kommen gerne ein anderes Mal wieder. Wir wissen ja jetzt, dass es hier ganz schön was zu sehen gibt. Außerdem können wir uns dann noch die ebenfalls sehr spannenden Hügelhäuser ansehen, für die nun leider keine Zeit mehr bleibt. Denn es wird langsam dunkel – und die S-Bahn kommt in drei Minuten.
Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Creiler Platz 1, 45768 Marl
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Öffnungszeiten: DI–FR von 10–17 Uhr und SA–SO 10–18 Uhr
Frittenbude, Marler Stern 40, 45768 Marl
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Öffnungszeiten: MO–FR von 11–19 Uhr und SA 11–18 Uhr
Insel-Café (im Marler Stern), Bergstr. 228, 45768 Marl
Öffnungszeiten: MO–DO von 8:30–18:30 Uhr, FR von 09–17:30 Uhr und SA von 09:30–14 Uhr
Text: Marius Hanke
Fotos: Sebastian Becker